Thomas Kendall hatte seine Zehn-Stunden-Schicht fast hinter sich und bereitete alles für die Übergabe an seinen Mitarbeiter Steven Porter vor, der ihn gleich um ein Uhr ablösen würde. Um diese Zeit war selbst auf einer belebten Straße wie der Pitkin Avenue im Brooklyner Quartier Brownsville kaum noch etwas los. Doch 24 Stunden geöffnet zu haben, gehörte zum Image von „Tom’s Deli“, und der eine oder andere Kunde verlief sich selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit in das Geschäft und ließ ein paar Dollar da.
Thomas Kendalls Laden war seit mehr als 20 Jahren eine Institution in Brownsville. Wie in allen Delis gab es Zeitschriften, Tabakwaren, Süßigkeiten und Dinge des täglichen Bedarfs. Doch der Clou seines Sortiments waren die italienischen Spezialitäten to go. Diese Köstlichkeiten waren über Brooklyns Grenzen hinaus bekannt und beliebt und brachten Thomas Kendall auch Kundschaft aus anderen Stadtteilen von New York. Die großen Genüsse für kleines Geld hatten dem gelernten Koch und seiner Frau Betty ein zwar arbeitsreiches, aber auch angenehmes Leben in bescheidenem Wohlstand beschert. Und weil die gemeinsame Tochter Jane Interesse daran zeigte, „Toms Deli“ weiterzuführen, hatte Thomas Kendall eigentlich allen Grund dazu, zufrieden zu sein. Doch in letzter Zeit hatten sich dunkle Schatten auf sein Gemüt gelegt.
Es waren seltsame Typen in seinem Laden aufgetaucht und hatten ihren Schutz angeboten. Eigentlich noch kein Anlass zur Sorge. So etwas hatte Kendall in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mal wieder erlebt. Doch nie war Schlimmeres passiert. Der Grund dafür war der Charakter seines Viertels. Zwar lebten in Brownsville überwiegend sehr arme Menschen, doch es gab traditionell ein sehr starkes Nachbarschaftsdenken. Diese enge Verbundenheit der Menschen untereinander hatte über Generationen hinweg dafür gesorgt, dass Gangs in Brownsville keinen Fuß in die Tür bekommen hatten. Doch diese neuen Typen waren irgendwie anders. Sie wirkten auf Thomas Kendall fast wie ferngesteuert. Mit monotoner Stimme und mechanischen Bewegungen hatten sie bei ihrem ersten Besuch ihr Schutzangebot unterbreitet.
Kendall hatte natürlich sofort in aller Deutlichkeit abgelehnt und diese schrägen Figuren des Ladens verwiesen. Doch seitdem waren sie in schöner Regelmäßigkeit immer wieder aufgetaucht, immer mit dem gleichen Ansinnen und immer mit dem gleichen emotionslosen Auftreten. Nie hat es eine Drohung gegeben oder den Versuch, auf andere Weise Druck auszuüben, und gerade das war es, was Thomas Kendall so beunruhigte. Natürlich hatte er mit befreundeten Geschäftsleuten gesprochen und dabei erfahren, dass diese von ganz ähnlichen Erlebnissen berichten konnten. Doch was sollte man tun? Es gab nicht die kleinste rechtliche Handhabe. Das hatte auch Captain Michael Wilson bestätigt, der Leiter des 73. Reviers in Brownsville. Wilson war eigentlich ganz nach dem Geschmack der Bürger des Brooklyner Viertels, bodenständig und handfest. Doch in diesem Fall waren ihm die Hände gebunden, wie er immer wieder betonte. In letzter Zeit hatte sich Thomas Kendall schon das eine oder andere Mal gewünscht, der Captain würde nicht ganz so eng am Buchstaben des Gesetzes kleben. Doch Michael Wilson blieb tatenlos. Zumal es nicht den Hauch eines Hinweises darauf gab, wer diese Typen überhaupt waren und wo sie herkamen. Sie tauchten aus dem Nichts auf und genauso verschwanden sie auch wieder.
Thomas Kendall notierte gerade noch einige Arbeitsanweisungen für seinen Mitarbeiter, als er an der Tür ein Geräusch hörte und aufsah. Es war eine drückende New Yorker Sommernacht, und der Ladenbesitzer hatte die Ladentür weit geöffnet. Auf der Schwelle stand ein großer, schwarzer Hund. Kendall knüllte ein Stück Papier zusammen, das er eigentlich hatte in den Papierkorb werfen wollen, und schleuderte es in Richtung Tür.
„Hau ab“, rief Kendall und der Hund trollte sich augenblicklich.
Der Ladenbesitzer schüttelte ungläubig den Kopf. Ein solches Vieh hatte er hier noch nie gesehen. Wo das wohl hergekommen sein mochte? Kendall zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder seiner Arbeit. Doch als er gerade die Tagesbelege abheften wollte, fiel sein Blick erneut auf die Tür. Dort stand jetzt nicht nur ein Hund, dort standen fünf große, schwarze Hunde, die knurrten und dabei gefährlich die Zähne fletschten. Der Ladenbesitzer glaubte, den Köter, der vorhin als Erster erschienen war, wiederzuerkennen. Er war noch etwas größer als seine Begleiter und stand in der Mitte der Gruppe wie ein Anführer.
Kendall griff nach dem Baseballschläger, der immer unter dem Tresen lag, umrundete die Verkaufstheke und ging mit erhobener Schlagwaffe auf die Hunde zu.
„Verschwindet, ihr blöden Tölen, oder ich ziehe euch den Knüppel über den Buckel“, schnauzte der Ladenbesitzer die Hunde an, doch das wirkte auf die wie ein Angriffsbefehl.
Fast gleichzeitig stürmten die Vierbeiner vorwärts und verbissen sich augenblicklich in Arme und Beine. Schmerz durchschoss Kendalls Körper. Er ließ den Baseballschläger fallen und stürzte zu Boden. Sofort stand einer der Hunde über ihm und bleckte die Zähne. Kendall glaubte, den Anführer zu erkennen. Das Letzte, was er wahrnahm, war dessen heißer Atem, der irgendwie nach Schwefel roch. Dann schoss der Kopf des Hundes vor und das Tier verbiss sich in Kendalls Kehle.
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