Kapitel 1 - Kostenlose Leseprobe

George Rutherford, der gerade das von Fackeln beleuchtete und grob in den Stein gehauene Gewölbe betreten hatte, wollte so gar nicht in diese mittelalterlich anmutende Umgebung passen. Sein Anzug wirkte auf den ersten Blick zwar gedeckt und konservativ, war aber nach der neuesten Mode geschnitten. Sein Oberhemd schien von erlesener Qualität und penibel gebügelt. Die seidene Krawatte nahm perfekt das dezente Muster des Anzugtuchs auf, und den Maßschuhen sah man die vielen tausend Dollar an, die sie gekostet haben mussten. Das elegante Gesamtbild wurde durch einen schwarzen Gehstock mit silbernem Knauf abgerundet. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen und mochte irgendwo zwischen 60 und 80 Jahren liegen. Allerdings hatte Georg Rutherford überhaupt nichts Greisenhaftes an sich. Die Figur war schlank und wirkte sportlich. Sein Gang war federnd und unterstrich die agile Ausstrahlung. Das Gesicht des Mannes war scharf geschnitten und verriet Durchsetzungswillen bis zur Rücksichtslosigkeit. Dieser Eindruck wurde noch durch die diabolisch wirkenden Geheimratsecken im weiß-blonden Haar unterstrichen.

Vor Rutherford waren links und rechts Zellen in den Fels gehauen worden, die mit schweren Gittern und darin eingelassenen Gittertüren verschlossen wurden. Der Mann zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, ging auf den rechten Felsenkäfig zu und öffnete die Tür. Dass im selben Moment in der anderen Zelle ein Dutzend Zombies an das Gitter drängten und ein fürchterliches Geheul anstimmten, schien Rutherford kaum zu bemerken. Auf jeden Fall interessierte es ihn nicht.

Die karge Einrichtung des Kerkers bestand aus einem Tisch, einer Pritsche mit schmuddeligen Decken und in der hintersten Ecke einem Kübel für die Notdurft.

Auf dem Behelfsbett lag eine alte, völlig verwahrloste Frau, die um die 70 Jahre alt sein mochte, und teilnahmslos an die Decke stierte. Das änderte sich auch nicht, als Rutherford sie ansprach.

„Na, Marianne, wie geht es dir nach 55 Jahren hier unten?“

Der Mann schob sich den Stuhl mit dem Fuß an die Pritsche und setzte sich.

„Eigentlich hätte ich dich damals schon erlösen können, aber du weißt ja, wie das ist mit dem Aberglauben.“

Rutherford warf einen Blick in die Ecke mit dem Kübel und rümpfte die Nase.

„Na ja, aber jetzt ist das Ende nah. Deine Nachfolgerin ist praktisch schon auf dem Weg. Und wenn sie hier eintrifft, verschaffe ich dir einen sanften Tod. Keine Grausamkeiten, versprochen.“

Marianne stöhnte fast unhörbar.

Der Mann erhob sich, verließ das Verlies und schloss hinter sich ab.

Das Geheul der Untoten in der anderen Zelle steigerte sich zu einem infernalischen Lärm.  Rutherford baute sich breitbeinig vor den Gitterstäben auf. Ganz langsam löste der Mann seine Krawatte, rollte sie sorgfältig zusammen und steckte sie in seine Jacketttasche. Dann öffnete er fünf Knöpfe seines Hemdes und entblößte seine Brust. Ein schweres, silbernes Amulett, das Rutherford um den Hals trug, wurde sichtbar.

Augenblicklich verstummte das bestialische Geheul, und die Zombies wichen zurück in die hinterste Ecke des Felsenkäfigs.

„Ich kann es euch nicht verdenken, dass ihr vergessen habt, wer euer Herr ist. Aber jetzt scheint es euch ja wieder eingefallen zu sein.“

Rutherford öffnete die Zellentür und ging auf die Ungeheuer ohne erkennbaren Respekt und mit festem Schritt zu. Die Monster drängten sich zusammen, wie Kälber im Schlachthof. Der Mann musterte einige von ihnen eingehend. Dann packte er einen der Untoten am Kragen und führte ihn aus der Zelle.

„Freunde, ich weiß, dass euch das Verlangen nach Menschenfleisch fast zerreißt. Aber bald gibt es genug für jeden. Das verspreche ich euch.“

Rutherford lächelte das Monster, das er sich herausgepickt hatte, fast schon freundlich an.

„Aber zunächst brauche ich nur ihn hier. Er ist sozusagen der Vorbote aus der Hölle.“

Logo

© Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.